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"Das riecht ja wieder wunderbar"
#3
SPIEGEL ONLINE - 30. November 2005, 13:06
URL: http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaf...60,00.html
Jamie Oliver bei RTL2

Die Moral des Fressens

Von Reinhard Mohr
Gammelfleisch, Gefrierbrand und Pestizid-Obst: Die Ernährungsfrage schlägt uns ganz schön auf den Magen, der Boom der Kochsendungen kommt nicht von ungefähr. Auf RTL2 müht sich jetzt Starkoch Jamie Oliver, englischen Schulkindern gesundes Essen beizubringen.
Das kann kein Zufall sein: Während sich die frischgebackene Bundeskanzlerin Angela Merkel in ihrer Regierungserklärung vor dem Bundestag darum bemühte, Aufbruchstimmung und gesellschaftlichen Konsens zu beschwören, bestimmen hässliche Wortschöpfungen wie "Gammelfleisch", "Gefrierbrand" und "Ekelkotelett" die öffentliche Debatte. Die von Greenpeace aufgedeckten Pestizidrückstände bei Gemüse und Obst in Discounter-Läden liefern einen weiteren unschönen Akzent dieser neuen deutschen Geschmackswahrnehmung.
Die massenhafte und offenbar systematische Verwertung von Schlachtabfällen und verdorbenen Fleischresten zu Nahrungsmitteln, die in den Supermärkten landen, markiert eine Zäsur. Schlauen Beobachtern könnte in den Sinn kommen, dass hier vielleicht der Selbstekel einer Überflussgesellschaft zum Ausdruck kommt, die alle Maßstäbe, auch die von Ästhetik und Moral, verloren hat.

Jedenfalls scheint es, dass just in dem historischen Augenblick, da Reichtum und Wohlstand der westlichen Gesellschaften ihren Zenith fürs Erste überschritten haben, eine Art neuer Klassenkampf ausbricht. Frei nach Bertolt Brecht - ein Kampf um die Moral des Fressens: Wer isst was, wie viel, warum und zu welchem Preis? Wie sieht der Mensch danach aus? Wie viel wiegt er? Und vor allem: Wie fühlt er sich? Geht er dann vielleicht erst recht auf die Barrikaden?

"Das ist inakzeptables Essen"

Schon der Boom der Kochsendungen im Fernsehen deutet auf die existentielle Dringlichkeit dieser Fragen. Doch leider ist es mit dem Kochen wie mit dem Sex: Je mehr darüber geredet wird, desto weniger kommt es zur praktischen Umsetzung. Nur jeder zweite Deutsche kocht überhaupt noch, und das auch nur von Zeit zu Zeit.

Aber es geht natürlich noch schlimmer: In England, der Wiege des alten Klassenkampfes, ist man traditionell schon froh, wenn überhaupt etwas Essbares auf den Teller kommt. Fish & Chips, Pommes Frites und Pizza aus der Tiefkühltruhe. Mehr muss nicht sein. Mehr kennen die meisten auch gar nicht.

"Das ist totaler Dreck", schreit nun Jamie Oliver, der hippe 30-jährige Starkoch, ein phänomenales Showtalent, der im zarten Alter von 23 Jahren mit seiner Fernsehsendung "The Naked Chef" (BBC) berühmt wurde und längst sein eigenes Restaurant, das "Fifteen", in London hat.

"Das ist inakzeptables Essen. Kein Mensch weiß, was da drin ist außer Fett und Zusatzstoffen." Vitamine, Mineralien und Ähnliches - Fehlanzeige. Und die Kinder, wie jüngst eine Umfrage ergab, wissen nicht mal, was in ihren heiß geliebten Pommes Frites drin ist. Weizenmehl? Bananenpuder? Kein Wunder: Schön fett frittierte Pommes, Fischstäbchen, Burger, Würstchen - alles sieht irgendwie gleich aus. Und es schmeckt auch so. Nach Fett natürlich. So kommt die Massenverpflegung in Betriebs- und Schulkantinen oft einer Körperverletzung gleich.

Ein Hauch von Straflager

Jetzt aber soll Schluss damit sein. In dem mehrteiligen Doku-Drama des englischen Privatsenders Channel 4, das nun von RTL 2 übernommen wurde, kämpft Jamie Oliver, selbstverständlich Autor zahlreicher Kochbücher, wie ein Löwe an der Kantinenfront. Titel: "Jamie's School Dinner". Teil eins lief gestern Abend um 21.15 Uhr.

1400 Schulkindern in Greenwich will Oliver beweisen, dass Essen nicht Fraß sein muss, auch wenn man nur 37 Pence pro Mahlzeit zur Verfügung hat. Jamie, wie ihn in England alle liebevoll nennen, tritt aber nicht nur gegen stabile Essgewohnheiten an (eine Viertel Tonne Pommes werden hier pro Woche herunter geschlungen), nicht nur gegen die Ausstattung einer Kantinenküche, gegenüber der eine Gulaschkanone aus dem Ersten Weltkrieg schon zum feinen Kochgeschirr zählt, sondern auch gegen Nora, die Kantinenchefin der Schule.

Sie hat von einem Ding namens "Mozzarella" noch nie etwas gehört, dafür trägt sie ihr Haarnetz wie eine Sturmhaube im Schützengraben. Mit der Stentorstimme eines Feldwebels und einer Schöpfkelle, vor der sich alle alten Nazis in Kontinentaleuropa fürchten sollten, schlägt sie ihre tägliche Schlacht ums Essen, bei der vor allem Tüten und Verpackungen im Akkord aufgerissen werden. Ein Hauch von Straflager weht hier über Mega-Topf und Riesenpfanne.

Kein Wunder, dass sich der cool-kreative Jamie mit der Wuschelfrisur in diesem Kasernenhof-Ambiente wie "Beckham in Jesuslatschen" fühlt, ein Künstler unter lauter Banausen. Die ersten zwei, drei Tage sind für ihn das reinste Martyrium. Unter dem Druck des rigiden Sparzwangs fällt ihm auch nichts wirklich Kreatives ein, und wenn dann endlich eine "hausgemachte" Pizza herauskommt oder ein einigermaßen leckeres Süppchen, werfen die Kinder die Zucchinis in den Abfall. Die Pommes sind da längst schon aus.

Erst als Jamie, der nebenbei noch an der Frauen- und Familienfront zu kämpfen hat, weil er nie zu Hause ist, die eiserne Nora für einen Tag zum Karottenschneiden in die Küche seines Edelrestaurants verbannt, geht es voran mit der Esskultur. Am Ende zaubert er ein thailändisches Hühnercurry, eine Kichererbsen-Lauchsuppe, Gemüsecannelloni und ein selbstgebackenes Brot mit Tomaten und Basilikum. Die Kinder greifen zögernd zu, bleiben aber skeptisch. Von zu Hause kennen sie so was schließlich nicht. Die Schulleiterin kritisiert, er habe das Budget teils um das Dreifache überschritten.

Nur Nora kommt, wie die heilige Johanna der Schlachthöfe, als beinah Bekehrte aus dem "Fifteen" zurück. In der nächsten Folge will Jamie Oliver erklären, dass man sogar Stangensellerie essen kann. Vielleicht beginnt sie ja genau so, die Revolution des 21. Jahrhunderts.

Uli Wink
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